Ministerrat erörtert mit Energiekommissar Oettinger energiepolitische Planungen und Vorhaben der Europäischen Kommission / Ministerpräsident Seehofer stellt bayerisches Energiekonzept „Energie innovativ“ vor / Seehofer: „Ausbau der regenerativen Energien auf 50 Prozent des Strombedarfs ist auch für Europa ein starkes Signal / Koordinierter Ausbau der Stromnetze in Europa mit Hochdruck vorantreiben“
Auf Einladung von Ministerpräsident Horst Seehofer hat der für Energiefragen zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger an der heutigen Sitzung des Ministerrats in München teilgenommen. EU-Kommissar Oettinger und das bayerische Kabinett haben die energiepolitischen Planungen und Vorhaben auf europäischer Ebene erörtert.
Ministerpräsident Seehofer stellte EU-Kommissar Oettinger das bayerische Energiekonzept „Energie innovativ“ vor. Dabei betonte er, dass die europarechtlichen Rahmenbedingungen auch die Art und Geschwindigkeit der Umsetzung des Energiekonzeptes in Bayern beeinflussen werden. Seehofer: „Die Ziele von ‚Energie innovativ’ sind sehr ambitioniert. Wie gut uns dessen Umsetzung gelingt, wird auch von den Initiativen und Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene abhängen. In erster Linie geht es dabei um den Ausbau der europäischen Energieinfrastruktur, die in Europa bestehenden Möglichkeiten der Zusammenarbeit beim Ausbau erneuerbarer Energien und die Verbesserung der Energieeffizienz. Das heutige Gespräch mit EU-Kommissar Oettinger war äußerst konstruktiv und hat uns die Möglichkeit gegeben, die Schwerpunkte der bayerischen Energiepolitik unmittelbar auf europäischer Ebene einzuspeisen.“
Seehofer betonte, dass der in Bayern geplante Ausbau der regenerativen Energien auf 50 Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre auch für Europa „ein starkes Signal“ sei. EU-Kommissar Oettinger zeigte großes Interesse am bayerischen Energiekonzept und dem für regenerative Energien bis 2021 vorgesehenen Ausbauziel. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union hatten sich im März 2007 darauf geeinigt, 20 Prozent des gesamten Energiebedarfs der Europäischen Union bis 2020 durch erneuerbare Energien aus Biomasse, Wasser, Wind und Sonne zu decken.
Auch Wirtschaftsminister Martin Zeil unterstrich die Bedeutung Europas für den Ausbau der regenerativen Energien: „Nur ein einheitlicher europäischer Rahmen für die Energiemärkte wird uns die Möglichkeit eröffnen, eine weitgehend auf erneuerbaren Energien basierende Energieversorgung zu verwirklichen.“
Schwerpunkte des Gesprächs mit EU-Kommissar Oettinger waren die in der vergangenen Woche vorgestellten
• europäischen Stresstests für Kernkraftwerke,
• der beschleunigte Ausbau der Energie-Infrastruktur in Europa,
• die Förderung erneuerbarer Energien sowie
• die Schwerpunktsetzung der Europäischen Kommission im Bereich der Energieforschung und
• mögliche Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz.
EU-Stresstests für Kernkraftwerke
Energiekommissar Oettinger erläuterte dem bayerischen Kabinett Einzelheiten zu Art und Umfang der Stresstests, denen die Atomkraftwerke in Europa ab dem 1. Juni 2011 unterzogen werden sollen. Die Europäische Kommission und die Gruppe der 27 nationalen Energieaufsichtsbehörden (ENSREG) hatten sich in der vergangenen Woche auf die Kriterien und Modalitäten für die Kontrollen aller 143 Atomkraftwerke in der EU geeinigt. Oettinger betonte, dass die EU ihre Anstrengungen bündeln werde, um für Kernkraftwerke in und in unmittelbarer Umgebung der EU die höchsten Sicherheitsstandards zu verwirklichen. Er bekräftigte die Absicht, die Kriterien mit der erforderlichen Strenge durchzusetzen. Der EU-Kommissar erläuterte weiter, dass die Kommission auch mit Ländern außerhalb der Union in engem Kontakt stehe und mit ihnen an einer Neubewertung ihrer Kernkraftwerke arbeite. Insbesondere handele es sich dabei um die Schweiz, die Russische Föderation, die Ukraine und Armenien.
Ministerpräsident Seehofer begrüßte die Einigung über Stresstests in Europa und hob die Verhandlungsleistung von Günther Oettinger hervor: „Die Katastrophe von Fukushima hat uns sehr deutlich vor Augen geführt, dass die Folgen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen nicht an den Ländergrenzen Halt machen. Einheitliche Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke sind daher kein nationales, sondern ein gesamteuropäisches und weltweites Thema. Wir haben es der Beharrlichkeit von Günther Oettinger zu verdanken, dass die Tests jetzt nicht nur auf Naturkatastrophen beschränkt sind, sondern auch die von Menschen verursachten Risiken erfassen.“ Über die auf europäischer Ebene erzielte Einigung zu den Stresstests hinaus, schlug Seehofer vor, die Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke insgesamt neu zu justieren. Seehofer: „Die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission sollten jetzt auch den nächsten Schritt in Angriff nehmen und die Rahmenrichtlinie für nukleare Sicherheit hinsichtlich der technischen Standards konkretisieren. Nötig sind auch einheitliche Vorgaben zur Sicherstellung der Stromversorgung im Krisenfall, Bedingungen für die Standortwahl und Sicherheitsanforderungen im Hinblick auf gezielte Angriffe von Außen. Nur so ist gewährleistet, dass es innerhalb der Europäischen Union bei allen atomaren Anlagen gleich hohe Standards gibt.“
Energie-Infrastruktur
Gegenstand des Gesprächs mit EU-Kommissar Oettinger war auch der notwendige Ausbau von Strom- und Gasnetzen in und nach Europa. Oettinger erläuterte Einzelheiten zum Energie-Infrastrukturpaket der Europäischen Kommission. Dabei unterstrich Oettinger die zentrale Bedeutung des Netzausbaus für die energiepolitischen Planungen in Europa. Strom aus regenerativen Energiequellen müsse speicherbar und transportfähig gemacht werden, damit erneuerbare Energien zu einer starken Säule im europäischen Energiemix werden können. Die Energieinfrastruktur sei der Schlüssel zu allen Energiezielen der Europäischen Union: das reibungslose Funktionieren eines Binnenmarktes, die Integration erneuerbarer Energien und ausreichende Versorgungssicherheit. Diese Kernziele können nur mit massiven Investitionen in die Netze erreicht werden. Die Europäische Kommission hat Ende 2010 ihre Strategie für den Ausbau der Energie-Infrastruktur in Europa vorgelegt. EU-Kommissar Oettinger sieht erheblichen Nachrüstungsbedarf bei den Stromnetzen, bei den Speicherkapazitäten, bei den Grenzkuppelstellen, mit denen die Energienetze verschiedener Länder verbunden werden sowie beim Aufbau intelligenter Stromnetze. Die Europäische Kommission plant unter anderem, Projekte von „europäischen Interesse“ in beschleunigten Verfahren durchzusetzen. Die konkreten Leitungen, die von beschleunigten Genehmigungsverfahren und Finanzierungshilfen profitieren sollen, wird die Kommission 2012 bekannt geben.
Ministerpräsident Seehofer stimmte mit EU-Kommissar Oettinger darin überein, dass der Energie-Infrastruktur eine zentrale Funktion zukomme: „Obwohl das bayerische Energiekonzept verstärkt auf dezentrale Energieversorgung setzt, lassen sich der beschleunigte Ausstieg aus der Kernenergie und die Verdoppelung des Anteils erneuerbarer Energien binnen 10 Jahren nur bewerkstelligen, wenn wir die Stromnetze mit Hochdruck ausbauen. Aus bayerischer Sicht benötigen wir vor allem Nord-Süd-Stromleitungen zur Anbindung der großen Windparks in Ost- und Nordsee, Leitungen in Richtung Mitteleuropa und den Bau neuer Gaspipelines. Wir haben uns heute über eine ganze Reihe von Möglichkeiten unterhalten, wie wir die Umsetzung der notwendigen Energie-Infrastrukturvorhaben beschleunigen können. Wir sind uns darin einig, auf europäischer Ebene den Netzausbau verstärkt zu koordinieren und in ganz Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern für die Akzeptanz eines zügigen Netzausbaus zu werben. Es ist uns im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung gelungen, im Rekordtempo eine leistungsfähige Infrastruktur aufzubauen. Ich bin überzeugt davon, dass uns dies auch bei der Energiewende gelingen wird!“ Ministerpräsident Seehofer kündigte ferner eine Initiative auf europäischer Ebene an, um Konflikte zwischen Energie-Infrastrukturausbau und Umweltschutz im europäischen Recht zu entschärfen. Seehofer: „Ohne entsprechende Kollisionsregelungen in europäischen Rechtsvorschriften wird es nicht gehen!“
Auch Wirtschaftsminister Zeil betonte die Bedeutung des Netzausbaus. Zeil: „Ein koordinierter Auf- und Ausbau der Netzinfrastruktur auf europäischer Ebene ist im Ergebnis nicht nur kostengünstiger als die Summe entsprechender nationaler Maßnahmen. Er führt auch zu einem intensiveren Wettbewerb auf dem europäischen Strom- und Gasmarkt und dämpft auf diese Weise die Preisentwicklung. Wir werden daher die Kommission bei der Umsetzung des Infrastrukturpakets nach Kräften unterstützen und uns aktiv für den Auf- und Ausbau eines europaweiten Netzverbunds stark machen. Aus bayerischer Sicht wichtig sind insbesondere der Ausbau der Transitkapazitäten zwischen Deutschland und Österreich, zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik sowie die Erhöhung der Transitkapazitäten zwischen Deutschland und Dänemark. Außerdem muss der Interkonnektor zwischen Deutschland und Norwegen schnell verwirklicht werden. Das schließt auch die Kooperation bei der Planung mit ein.“ Zeil betonte, dass zur Verbesserung der Infrastruktur die Genehmigungsverfahren zum Bau neuer Stromnetze gestrafft und verbessert werden müssten. Bestehende nationale Zuständigkeiten und Verfahren müssten dabei aber beachtet werden. Dies habe auch der EU-Gipfel vom Februar ausdrücklich festgehalten.
EU-Kommissar Oettinger und die Staatsregierung waren sich darin einig, dass der Großteil des erheblichen Finanzierungsaufwands für die Infrastrukturinvestitionen über die Energiewirtschaft und nicht über die öffentliche Hand bereitgestellt werden muss. Ministerpräsident Seehofer wies darauf hin, dass eine Anschubfinanzierung aus öffentlichen Geldern bei einzelnen Vorhaben durchaus sinnvoll sein könne. Eine dauerhafte Finanzierung der Energie-Infrastruktur aus öffentlichen Mitteln dürfe es allerdings nicht geben.
Förderung erneuerbarer Energien
Thema der Beratungen zwischen Energiekommissar Oettinger und dem Ministerrat war auch die Förderung von Ökostrom in Europa. EU-Kommissar Oettinger verwies auf die Schlussfolgerungen des Energiegipfels vom 4. Februar 2011 in Brüssel, nach denen die Europäische Kommission künftig intensiver mit den Mitgliedstaaten an der Umsetzung der Richtlinie über erneuerbare Energiequellen arbeiten wird, auch hinsichtlich kohärenter nationaler Förderregelungen und Kooperationsmechanismen. Ziel der Europäischen Union sei eine effizientere Förderung. Aus Sicht der Kommission ließen sich bei verbesserter Abstimmung innerhalb der Europäischen Union erhebliche Einsparungen realisieren. Oettinger sprach sich für eine intensivere Koordination und Kooperation der Mitgliedstaaten im Bereich der Förderung regenerativer Energien aus.
Ministerpräsident Seehofer verwies auf die Bedeutung nationaler Fördermittel für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Seehofer: „Aus Deutschland kommt Spitzentechnologie zur Erzeugung von Strom aus regenerativen Energiequellen. Diese Vorreiterrolle haben wir zu einem guten Teil auch dem öffentlichen Fördersystem für erneuerbare Energien zu verdanken. Darüber hinaus setzt Bayern beim Ausbau der regenerativen Energien vor allem auch auf eine dezentrale Energieversorgung. Um Anreize für die Nutzung der vorhandenen erneuerbaren Energiequellen vor Ort zu setzen, können wir auf eine entsprechende öffentliche Förderung nicht verzichten.“
Wirtschaftsminister Zeil machte deutlich, dass die regenerativen Energien nicht dauerhaft vom europäischen Energiebinnenmarkt ausgenommen werden dürften. Er sprach sich deshalb für eine schnelle nationale Umsetzung der in der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie der EU vorgesehenen Kooperationsmöglichkeiten zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten aus, beispielsweise bei gemeinsamen Projekten.
Forschung im Bereich Energie, insbesondere Speichertechnik
Europäische Kommission und Bayerische Staatsregierung vertraten gemeinsam die Auffassung, dass der Bereich Energie zu den absoluten Schwerpunkten („Great Challenges“) der künftigen Europäischen Forschungsförderung gehört. Kommissar Oettinger verwies darauf, dass die Europäische Union in ihrer Energiestrategie 2020 eine Führungsrolle der EU bei Energietechnologien anstrebe. Aus Sicht Bayerns muss vor allem die Erforschung von Speichertechnologien vorangetrieben werden.
Energieeffizienz
EU-Kommissar Oettinger stellte im Kabinett auch den Energieeffizienz-Aktionsplan 2011 vor, den die Europäische Kommission Anfang März beschlossen hatte. Darin schlägt die Kommission Maßnahmen vor, mit denen das Ziel der EU, 20 Prozent Energie bis zum Jahr 2020 einzusparen, erreicht werden soll. Oettinger wies darauf hin, dass Energieeffizienz für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas von zentraler Bedeutung sei. Mehr Energieeffizienz verringere die Energieabhängigkeit und ermögliche gleichzeitig, Emissionen zu senken. Nach den Worten Oettingers müssten allerdings erhebliche Anstrengungen unternommen werden, um das 20-Prozent-Ziel bei den Energieeinsparungen zu erreichen. Die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen konzentrieren sich insbesondere auf die energetische Gebäudesanierung, die Steigerung der Energieeffizienz in der Industrie und in den privaten Haushalten sowie auf die Einführung intelligenter Netze und Stromzähler.
Der Energieeffizienzplan wurde von der Bayerischen Staatsregierung grundsätzlich begrüßt. Ministerpräsident Seehofer wies darauf hin, dass viele der dort erwähnten Maßnahmen in Deutschland bereits umgesetzt oder bereits erfolgreich praktiziert werden. Dies betreffe beispielsweise die Regelung zur geforderten Privilegierung von Strom aus Kraft-Wärme-Kopplung, Regelungen im Mietrecht zur Beteiligung des Mieters an energetischen Renovierungskosten oder das Energie-Contracting. Skeptisch zeigte sich der Ministerpräsident hinsichtlich der Vorgabe verbindlicher Einsparziele auf europäischer Ebene: „Bei einem Zeitraum von knapp zehn Jahren sehe ich die Gefahr, dass in einigen Mitgliedstaaten notwendige längerfristig angelegte Gesamtmaßnahmen im Bereich der Energieeffizienz zugunsten kurzfristiger Einzelmaßnahmen verdrängt werden, um das Einsparziel von 20 Prozent nominell zu erreichen. Wir sollten vielmehr auf Ebene der Mitgliedstaaten vermehrt Anreize zum Energiesparen setzen.“